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Wednesday, 3.07.2024
eGovernment Forschung seit 2001 | eGovernment Research since 2001
E-Government - eine Bestandsaufnahme.

Anfang September fand in Aix-en-Provence ein Fachkongress zum Thema E-Government statt, der einen umfassenden Überblick über Aktivitäten in Forschung und Praxis ermöglichte. Die Schweiz erregte mit smartcardlosen Smartcards Aufsehen. Die ferne Schlüsselvision im E-Government ist die papierlose Selbstverwaltung jedes Bürgers, in der fast jeder Informationstransfer vertrauenswürdig und sicher mittels digitaler Dokumente stattfindet. Mündlich soll nur noch in Ausnahmefällen kommuniziert werden. Die dabei eingesparten Kosten sollen für eine verbesserte Beratungsqualität genutzt werden, wo diese notwendig ist oder vom Bürger gewünscht wird.

Im Übrigen soll es einem Bürger möglich sein, von jedem Ort der Welt aus jederzeit Verwaltungstransaktionen zu initiieren, beispielsweise den geänderten Wohnort zu melden, die Steuererklärung abzugeben oder digitale Personaldokumente zu bestellen. Dass dies sogar in länderübergreifende Szenarien und in Übereinstimmung mit den strengen europäischen Datenschutzrichtlinien möglich wäre, hat das europäischen Forschungsprojekt Facilitating Administrative Services for Mobile Europeans (FASME) gezeigt (NZZ vom 21. 1. 00). In der Praxis freilich gibt es bis heute wenig mehr als experimentelle Angebote lokaler Dienste, beispielsweise das Bezahlen der Hundesteuer oder das Reservieren von Gräbern.

Viele Baustellen

Die Bedeutung des Begriffs «E-Government» ist oft diffus; er bezeichnet im Wesentlichen den Einsatz von Informationstechnologie (IT) in Exekutive, Legislative und Judikative. Dies ist ein weites Gebiet mit vielen unterschiedlichen Spielwiesen, auf denen in den letzten Jahren verschiedenste kleinere oder grössere Baustellen eröffnet wurden, ohne dass es irgendwo einen überzeugenden Gesamtplan gäbe, wie E-Government in Zukunft aussehen sollte.

Die Frage, welche nützliche Rolle die IT jeweils spielen kann, wirft viele altbekannte Informatik-Problemstellungen auf, z. B. in Bezug auf die Grenzen von regelbasierter künstlicher Intelligenz («Welchen Nutzen bringt eine digitale Widerspruchserkennung im Gesetzesentwurf in einer in sich selbst widersprüchlichen Paragraphenwelt?») oder die damit zusammenhängende Frage nach den Möglichkeiten von Ontologie- Managementsystemen («Inwieweit können Dokumente fremder Behörden automatisch verarbeitet werden?»). Dazu kommen bekannte Probleme der Mensch-zu-System-Interaktion, der kulturellen Heterogenität der Benutzer, der Spezifikation der Anforderungen an neue Technologien, der Toleranz bei technischen Fehlern, dem Konsens bei verteilten Abstimmungen und der technischen Machbarkeit von datenschutzkonformer Authentifikation.

Aus Fehlern lernen

Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit E-Government ist zwar älter als der Begriff, doch als eigentliche Disziplin beginnt sie sich erst jetzt zu etablieren. Sie wird derzeit getragen von Verwaltungswissenschaftern, Wirtschaftsinformatikern, forschungsinteressierten Beamten - und zu einem kleineren Teil von Informatikern. Die zentralen Forschungsfragen betreffen die Möglichkeiten und die impliziten Folgen des IT-Einsatzes: Welche nützlichen Dienste können Bürgern und Firmen angeboten werden? Wie kann die Qualität von Entscheiden, Verordnungen und Gesetzen verbessert werden in Bezug auf Fairness, Sinnhaftigkeit und Schnelligkeit? Was bedeuten die Veränderungen für den einzelnen Bürger, und welche Folgen haben sie für die Gesellschaft, beispielsweise für demokratische Prozesse?

Bisher hat die Forschung noch kaum Resultate erzielt, die über die klassischen Antworten in den zitierten Bereichen hinausgehen. Es wurden lediglich die Probleme aufgezeigt und rudimentäre Lösungskonzepte validiert. Auf der anderen Seite wurden in der Praxis vielerorts Lösungen entwickelt, die vieles von dem ignorieren, was die Informatik in den letzten Jahrzehnten an negativen Erfahrungen gemacht hat.

Dies hat einen neuen Forschungszweig geschaffen, der sich mit gescheiterten E-Government-Projekten beschäftigt und mit dem Schaden, den erfolgreiche Projekte anrichten (könnten). Grund zur Forschung liefert z. B. der selten benutzte E-Government-Kiosk in einem Viertel mit hoher Arbeitslosigkeit und hoher Kriminalitätsrate oder das interdisziplinäre Forschungsprojekt, dessen Teilnehmer erst nach vier Fünfteln der Laufzeit herausfanden, worum es im Projekt überhaupt gegangen wäre, oder die Absicht einiger Länder, Textschablonen für das Formulieren von Gerichtsurteilen einzuführen, weil sie schablonierte Urteile für fairer halten als den Status quo.

Der Graben zwischen E-Gov und E-Biz

Einflussreiche Beamte der EU-Kommission sahen ursprünglich im E-Government einen möglichen Startmotor für die Ankurbelung des europäischen E-Business. Doch nun harzt es in vielen nationalen Projekten: Österreich musste die Einführung seiner Sozialversicherungskarte verschieben, in Finnland wird die Fin-Id kaum genutzt, Grossbritannien ist weit von der 100-prozentig digitalisierten Verwaltung entfernt. Die Probleme haben wenig mit der E-Business-Krise zu tun. Sie resultieren aus Verwaltungsspezifika und der unreflektierten Übertragung von E-Business-Konzepten auf das E-Government. Doch es gibt gravierende Unterschiede zwischen beiden.

Erstens sind Behörden primär der Korrektheit und erst sekundär der Effektivität verpflichtet, während aus Informatiksicht Korrektheit ohne Effektivität sinnlos ist. Eine Datentransaktion, die später stattfindet, als es die Spezifikation erlaubt, ist nicht korrekt, während ein Verwaltungsakt auch dann korrekt sein kann, wenn er um Jahre die Betroffenen überlebt. Dies führt zu kulturell bedingten Missverständnissen.

Zweitens ist die wichtigste Aufgabe eines modernen IT-Projektmanagements das Risikomanagement, doch ein Denken in Risiken ist Beamten ähnlich fremd wie Bonus-abhängigen Managern ohne IT-Kenntnisse. Dazu kommt, dass in E-Government-Projekten meist die allgemeinen Richtlinien für die Abrechnung wichtiger sind als der Projekterfolg, was die Möglichkeiten des Risikomanagements beschränkt. Drittens sind die Machtmechanismen unterschiedlich, weshalb das konventionelle Change-Management versagt. Überdies sind dem Prozess-Reengineering durch die Gesetze enge Grenzen gesetzt.

Viertens ist die Entscheidungsfindung bei bindenden, logisch widersprüchlichen Prämissen eine Kernkompetenz von Behörden, die es in dieser Form in der Wirtschaft selten und im E-Business gar nicht gibt. Fünftens und vor allem anderen aber ist ein Bürger nicht einfach ein Behördenkunde. Er hat Rechte und muss Pflichten erfüllen. Ein E-Government auf der Basis eines marktorientierten Electronic Customer Relationship Management wird dem nicht gerecht.

Diskurs in der Enge

Vom 2. bis zum 6. September fand in Aix-en- Provence erstmals die EGOV 2002 statt, ein Fachkongress, der eine umfassende Leistungsschau von E-Government-Aktivitäten in Forschung und Praxis bot. Organisiert wurde der Kongress von zwei einflussreichen europäischen E-Government-Wissenschaftern, dem Verwaltungswissenschafter Klaus Lenk und dem Wirtschaftsinformatiker Roland Traunmüller.

Die Gesamtschau von knapp 80 Projekt- und Forschungsresultaten führte vor Augen, wie viel Arbeit es noch zu tun gibt. Berücksichtigt man, dass selbst mittelgrosse Projekte wie FASME mehr als 50 Mitarbeiter beanspruchen und Kosten von über fünf Millionen Franken verursachen, wird klar, wie viel Aufwand hinter diesen bescheidenen Erfolgen steht.

Vor der digitalen Vernetzung sollte zuerst das Denken vernetzt werden, doch interdisziplinäre Forschungsarbeit, die den Namen verdient, ist selten. Die EGOV zeigte, dass in vielen Projekten lediglich längst etabliertes Wissen neu entdeckt wird, bisweilen werden sogar die Ergebnisse von Vorgängerprojekten ignoriert. Eines der neuen EU-Projekte geht etwa von der Annahme aus, dass jede E-Government-Entscheidung abstrakt betrachtet demselben generischen Muster entspricht, weshalb die Implementierung eines E- Government-Dienstes in einem europäischen Land beweise, dass man jeden Dienst in jedem europäischen Land implementieren könne. Und aus der Schweiz kommt die smartcardlose Smartcard, die alle Probleme löst. Sie wurde nicht implementiert, sondern als Konzept gegen die grassierende Ideenlosigkeit vorgestellt, was dem Ganzen einen gewissen frechen Charme verlieh.

In einer zur EGOV veröffentlichten Deklaration identifizierten Lenk und Traunmüller sieben zentrale Perspektiven für das E-Government, an denen sich die zukünftige Forschungs- und Entwicklungsarbeit orientieren soll. Sehr kurz zusammengefasst lauten diese:

  1. gesamtheitliche Problemsicht und konsistente Strategie für die Veränderung des öffentlichen Sektors;
  2. Fokussierung auf Dienste für die Öffentlichkeit;
  3. Neudefinition von Verwaltung inklusive der notwendigen Gesetzesänderungen;
  4. Verschiebung des Fokus von den Strukturen und Prozessen zu den Inhalten mit dem Ziel einer nahtlosen Integration von maschineller Intelligenz und menschlicher Expertise;
  5. ingenieurmässiges Herangehen;
  6. behördenübergreifende Referenzmodelle und Standards;
  7. kompetentes Change-Management.
Von diesen «Perspektiven» ist derzeit ein Zehntel Wirklichkeit. Insbesondere fehlt den meisten Projekten eine gesamtheitliche Sicht auf die IT-Architektur, das ingenieurmässige Herangehen steckt noch in den Kinderschuhen. Lenk und Traunmüller befürchten, dass E-Government als Ganzes an der Enge der Betrachtungsweisen scheitern könnte.

Reinhard Riedl

Reinhard Riedl leitet die Distributed Systems Group am Institut für Informatik der Universität Zürich.

Quelle: NZZ Online

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