Das französische Innenministerium hatte die Verwendung softwaregesteuerter Geräte zur Stimmerfassung und -zählung im November 2003 per Verordnung auf der Grundlage des Wahlgesetzes von 1969 zugelassen. Seither haben etwa 50 Kommunen insgesamt mehr als tausend Geräte angeschafft – davon rund 800 des Typs ESF1 bei dem niederländischen Hersteller Nedap; die US-Firma ES&S/Datamatique lieferte 160 Touchscreen-Geräte vom Typ iVotronic und als dritter Ausrüster kam der spanische Hersteller Indra mit dem System Point&Vote zum Zuge.
Wie in anderen Ländern Europas ist die Virtualisierung des Wählervotums auch in Frankreich umstritten. Die Gegner haben sich auf der Wahlcomputer-Website Ordinateurs-de-vote.org des Informatikers Pierre Muller formiert. Sie bemängeln unter anderem, dass die technischen Zulassungsbedingungen keine Code-Inspektion der Software, keine Prüfmechanismen zur Verifikation der Rechnerintegrität und auch keinen "Paper Trail" zur geräteunabhängigen Nachzählung verlangen. "Die Technische Anleitung des Ministeriums lässt zu, dass die verwendeten Programme geheim bleiben und der Quellcode nicht offen gelegt werden muss", kritisiert die Vorsitzende der Informatiker-Vereinigung an der Universite Nantes, Chantal Enguehard; "der Schutz von Geschäftsgeheimnissen hat mehr Gewicht als die Transparenz des Wahlverfahrens".
Die von den Aktivisten initiierte Petition zur Beibehaltung von Papierstimmzetteln haben derzeit 55.000 Bürger unterzeichnet. Darin erklären sie, in ihrem Wahllokal auf der Stimmabgabe auf Papier bestehen zu wollen und als Wahlhelfer für die Auszählung zur Verfügung zu stehen. Als Sofortmaßnahme appellieren sie an den Staatspräsidenten sowie ihren für die Wahlorganisation zuständigen Bürgermeister, den Einsatz von Wahlcomputern auszusetzen. Und auf die Zukunft gerichtet fordern sie das Recht ein, dass sich auch weiterhin jeder Bürger oder jede Bürgergruppe ohne die Anrufung von Experten vom ordnungsgemäßen Zustandekommen des Wahlergebnisses unmittelbar selbst überzeugen kann. Die Bedeutung dieser Forderung demonstriert die Initiativgruppe mit einem "Abstimmungscomputer", der sich wie die real eingesetzten Wahlmaschinen selbst die Integrität bescheinigt, bei dem aber ein kleines Javascript die Wählereingaben verfälscht; die "Wähler" sind eingeladen, die Manipulation zu beweisen, wofür ihnen aber – anders als im wirklichen Leben – der Betreiber auch den Quellcode der Wahlsoftware zur Verfügung stellt.
In der öffentlichen Auseinandersetzung haben sich inzwischen auch die Spitzen der Politik zum Thema eingelassen. Globalisierungskritiker Jose Bove, der als Außenseiter in das Rennen um das höchste Staatsamt geht, gehört zu den Unterzeichnern der Petition. Der Spitzenkandidat der Nationalen Front, Rechtsextremist Jean-Marie Le Pen, der es vor fünf Jahren in die Stichwahl schaffte, lehnt Wahlcomputer ab; Francois Bayrou, der Kandidat der Zentrumspartei UDF, der Umfragen zufolge derzeit in der Wählergunst an dritter Stelle liegt, befürwortet, sie vorerst nicht einzusetzen. Aus dem Lager der rechtskonservativen UMP unter der Führung von Nicolas Sarkozy, der als Innenminister 2003 die Wahlgeräte-Verordnung erlassen hatte und Ende März sein Amt für den Wahlkampf aufgab, war indes bisher nur die kritische Stimme des Abgeordneten Richard Cazenave aus Grenoble zu vernehmen – dort stoppte der Stadtrat im November 2006 die Pläne des Bürgermeisters zur Anschaffung von iVotronic-Wahlcomputern.
Les Verts, die französischen Grünen, hatten schon Anfang des Jahres beklagt, dass die Legalisierung der elektronischen Stimmerfassung ohne jede öffentliche Debatte über die Risiken erfolgt sei und ebenso wie die Parti Communiste ein landesweites Moratorium für die Beschaffung gefordert. Drei Wochen vor dem ersten Wahlgang reagierte auch die Parti Socialiste der Kandidatin Segolene Royale auf die "lebhafte Unruhe in der Bevölkerung": Sie verlangte vom Innenminister, den Präfekturen bis auf weiteres die Verwendung der Wahlcomputer bei Präsidentschafts- und Parlamentswahlen zu untersagen. Damit solle der Nationalversammlung Gelegenheit gegeben werden, die versäumte Diskussion über die Risiken nachzuholen. "Die vorgebrachten Vorteile (Modernisierung, Kostensenkung, Kampf gegen die mangelnde Wahlbeteiligung) sind nicht bewiesen", heißt es in der Erklärung der Sozialisten, aber "die Risiken des Wahlbetrugs und massiver, nicht nachweisbarer Wahlfehler sind real".
Zum Thema E-Voting und elektronische Wahlmaschinen siehe auch:
- Datenschutz für Wahlcomputer
- E-Voting am Großbildschirm
- E-Voting: Experten wollen unter sich bleiben
- Estland wählt per Internet
- US-Regierung benennt offizielle Wahlmaschinen-Testlabors
- Verfassungsklage gegen Wahlcomputer
- Gesetzentwurf zu Wahlmaschinen in den USA umstritten
- E-Voting-Aktivismus, Ein Anlauf zur europaweiten Koordination unter Kritikern von Wahlmaschinen, c't 5/07, S. 42
- E-Voting ist keine E-Demokratie
- Wahlmaschinen: Florida rudert zurück
- Cottbus verabschiedet sich von Wahlcomputern
- 23C3: "Das Bundesinnenministerium hat das Wahlrecht gehackt"
- Wahlprüfungsausschuss: Bedenken gegen Wahlcomputer "offensichtlich unbegründet"
- "Eine neue Situation", E-Voting in Deutschland nach dem Wahlmaschinen-Hack , Interview mit Professor Dieter Richter von der Physikalisch-Technischen Bundesanstalt, c't 24/06, S. 72
- Italien stoppt Wahlcomputer-Projekte
- Demokraten fechten Wahlergebnis in Sarasota (Florida) an
- Alles legal: Wahleinspruch in Cottbus abgelehnt
- Wahlcomputer in Florida unterschlagen jede achte Stimme
- Misstrauen gegen Wahlgeräte: Wahleinspruch in Cottbus
- Erneut Wahlmaschinen-Debakel in den USA
- E-Voting: Hamburg führt den digitalen Wahlstift ein
- Floridas Wahlcomputer führen erneut Eigenleben
- Grünes Licht in den Niederlanden für Nedap-Wahlcomputer
- SDU-Wahlcomputer von niederländischen Parlamentswahlen ausgeschlossen
- "Die Nicht-Lösung eines nicht existierenden Problems", Rop Gonggrijp zu den Konsequenzen aus dem Wahlmaschinen-Hack, c't 23/06, S. 36
- NIST soll US-Wahlmaschinen prüfen
- CCC kritisiert schwere Mängel bei Wahl in Cottbus
- Bundestags-Petition gegen Wahlcomputer
- Großbritannien nimmt neuen Anlauf zum E-Voting
- Schach dem E-Voting, Hackerteam demonstriert die Manipulierbarkeit von Wahlcomputern, c't 22/06; S. 52
- PTB will den Wahlcomputer-Hack "aufmerksam und gründlich" studieren
- Wahlmaschinen-Prüfer würdigen Arbeit der Nedap-Hacker
- CCC fordert Verbot von Wahlcomputern - Nedap wehrt Vorwürfe ab
- Niederländische Bürgerinitiative knackt Nedap-Wahlcomputer
- Erneut Sicherheitsmängel bei Wahlmaschinen nachgewiesen
- Obskure Demokratie-Maschine, Sind Wahlcomputer manipulationssicher?, c't 20/06, S. 86
- Niederländische E-Voting-Gegner wollen Widerstand in Europa vernetzen
- E-Voting: Online wählen mit zertifizierter Sicherheit
- E-Voting: Nur die letzte Stimme zählt
- E-Voting: "Allmählich wird es ernst"
- E-Voting: Ja, aber ..., Bedenken gegen die Wahlcomputer von Nedap, c't 16/06, Seite 54
- Naive E-Wähler, Rechtliche und technische Probleme bei Wahlcomputern in Deutschland, c't 15/06, Seite 104
- Der Stift-Kompromiss, Das Hamburger Landeswahlamt propagiert fürs Voting den digitalen Wahlstift, c't 6/06, S. 90
- "Der schleichende Verfall der öffentlichen Kontrolle", Der 22C3 diskutiert über Wahlen per Internet und E-Voting, c't 2/06, S. 20
- E -Voting vs. Verfassung, Rechtliche Bedenken bei elektronischen Wahlmaschinen in Deutschland, c't 1/06, S. 80
- Elektronische Wahlen?, Einige verfassungsrechtliche Fragen, c't 23/05, S. 228
- Dreimal drücken – fertig?, E-Voting-Großeinsatz bei der Bundestagswahl, c't 19/05, S. 54
- Trial and Error, Streit um technische Richtlinien für US-Wahlcomputer, c't 17/05, S. 54
- E-Voting – ein Spiel mit dem Feuer, Elektronische Wahlsysteme bei den US-Präsidentschaftswahlen 2004, c't 23/04, S. 100
- Verführerischer Charme ..., ... aber die Einführung allgemeiner Online-Wahlen bleibt umstritten, c't 11/01, S. 22
- Der virtuelle Wähler, Zweifel am Urnengang mittels Internet, c't 8/01, S. 70
Autor(en)/Author(s): (Richard Sietmann) / (jk/c't)
Quelle/Source: Heise online, 11.04.2007