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Wednesday, 3.07.2024
eGovernment Forschung seit 2001 | eGovernment Research since 2001
Per Gesetz garantiert Estland seinen Bürgern den kostenlosen Zugang ins Internet. Nirgendwo sonst ist die Computerisierung des Alltags so weit vorangeschritten.

Der eine Datscha auf einer Ostseeinsel sucht oder eine Altstadtwohnung in Tallinn, muss in Estland keinen Fuß vor die Tür setzen. Ein paar Schritte zum Heimcomputer genügen: Immobilien lassen sich am Rechner auf Luftbildern anschauen. Einfach Adresse und Hausnummer eintippen, schon zoomt das Gerät sich heran: erst die Stadt, dann das Viertel, schließlich entsteht die Ansicht des gewünschten Hauses. Willkommen in E-stonia - nirgendwo ist die elektronische Revolution so weit fortgeschritten wie in Estland. 74 von 100 Menschen haben ein Handy; in dem Baltenstaat nutzen prozentual genauso viele das Internet wie in den Industrieländern Italien oder Frankreich. Das Besondere: Estland garantiert seinen Bürgern den freien Zugang zum weltweiten Datennetz.

Wer sich keinen eigenen Rechner leisten kann, setzt sich - umsonst - an einen der 700 staatlichen Internet-Zugänge. In Büchereien, Postämtern oder auch Dorfläden sind solche "Public Internet Access Points" eingerichtet. Fast 90 Prozent der Bankgeschäfte werden mittlerweile online abgewickelt, und auch die meisten Behördengänge erledigen die Esten per E-Mail.

Dabei war Estland noch vor 13 Jahren eine entlegene Provinz der gerade verstorbenen Sowjetunion, irgendwo im nordöstlichen Winkel der Ostsee, wo die Sonne im Winter kaum aufgeht.

"Damals stellten wir fest: Wir sitzen in der Tinte", erinnert sich Ivar Tallo, Direktor der estnischen E-Government-Universität in Tallinn: "Dabei wollten wir leben wie die Finnen." Kaum 80 Kilometer ist die Handy-Hochburg Helsinki entfernt.

"Wir wollten raus aus dem Ostblock, so schnell, wie es geht", erinnert sich Tallo. Also machten sich die Esten daran, ihr Gemeinwesen neu aufzubauen, nach skandinavischem Vorbild mit wenig Hierarchien, viel Transparenz der staatlichen Organe - und modernster Kommunikationstechnik.

Tigersprung in die Informationsgesellschaft

Während er erzählt, schickt Tallo nebenbei eine SMS ab, um sein Parkticket zu bezahlen. Auch in vielen Kneipen, Restaurants und Geschäften lässt sich die Rechnung heute per Handy begleichen.

Mitte der Neunziger hatte die Regierung das Programm "Tigersprung" - "Tiigrihüppe" - gestartet. Statt sich von der Sowjet-Ära lange durch die Niederungen des kapitalistischen Industriezeitalters zu mühen, wollte Estland gleich mit einem Riesensatz in der Informationsgesellschaft landen.

Heute sind sämtliche Ämter vernetzt, Bürger können online nachvollziehen, mit welchen Entscheidungen sich welche Dienststelle gerade befasst. Kabinettssitzungen werden online abgehalten.

"Neulich auf der Uno-Tagung zum Thema Informationsgesellschaft in Genf wurden große Reden geschwungen - derweil nahm der estnische Minister Meelis Atonen gerade per Laptop an einer Kabinettssitzung in Tallinn teil", grinst Tallo.

Das Geld für die Infrastruktur, für Server und Mobilfunkmasten, kam aus Finnland und Schweden. Skandinavische Unternehmen investierten in den Bankensektor und die Telekommunikation. Und damit nicht nur junge Städter in den Genuss der Internet-Seligkeit kommen, hat die Regierung auch gleich ein umfangreiches Schulungsprogramm aufgelegt: Im Rahmen von "Look@worldproject" ließen sich 100 000 Esten im Gebrauch von Maus und Browser unterweisen - das sind rund zehn Prozent der erwachsenen Bevölkerung.

Verbrecher-Biografie online

Der ungebremste Verkehr mit zum Teil privaten Informationen scheint dabei die Esten kaum zu beunruhigen, eine lebhafte Datenschutzdebatte gab es in dem Land bislang nicht. Auch die Tatsache, dass Gerichtsakten veröffentlicht werden, sorgt für keinen Aufschrei. Dort finden sich zum Beispiel Urteile gegen Vergewaltiger - auch mit Namen und Geburtsdaten der Opfer, weltweit öffentlich einsehbar. Oder es ist nachzulesen, dass ein Kleinkrimineller aus Tallinn, geboren 1960, vor fünf Jahren beim Autokauf betrogen hat. Wie lange dem Mann dieser Eintrag im Internet nachhängen wird, weiß niemand. So könnten auch Arbeitgeber auf den Gedanken kommen, die Namen ihrer Angestellten durch die Suchmaschinen zu jagen.

Allerdings sind noch keine groben Fälle von Datenmissbrauch oder Betrügereien bei Online-Geschäften aufgeflogen. Zudem überwacht ein Datenschutzamt, wer welche Informationen abfragt.

"Das Online-Banking funktionierte bei uns so schnell so reibungslos, dass die Menschen gar keine Zeit haben, Angst zu bekommen", sagt Raul Malmstein, der die Regierung im Internet-Sektor berät: "Wir sind Innovationen gewöhnt, weil wir vor zehn Jahren in jeder Hinsicht fast bei null angefangen haben."

Die hohe Transparenz sei vielmehr ein entscheidender Standortvorteil Estlands. "Bei uns kann jeder nachvollziehen, was die Behörden tun", freut sich deshalb Urmas Kõlli vom IT-Dienstleister Datel. Anders als in vielen Nachbarländern könnten Investoren so leicht überprüfen, wie es um ihre Baugenehmigungen oder Anträge bestellt ist. Sie sind nicht der Willkür postkommunistischer Behörden-Apparatschiks ausgeliefert.

Angst vor der Dot-Com-Blase

Allerdings gibt Malmstein zu, dass derzeit noch niemand sagen kann, wie viele Arbeitsplätze die elektronische Aufrüstung tatsächlich gebracht hat: "Insgesamt macht der IT-Sektor etwa acht Prozent vom Bruttoinlandsprodukt aus." Sein enormes Wachstum - sechs Prozent im Jahr 2002 - hat Estland wohl eher seinen extrem niedrigen Steuersätzen und Löhnen zu verdanken.

"Doch auf lange Sicht können wir nicht auf niedrige Löhne setzen, wir müssen eine Wissenshochburg werden", sagt Malmstein. Mit der Computerisierung seien nur die günstigen Bedingungen geschaffen. Jetzt müssten Ideen her, wie damit auch auf Dauer Geld zu verdienen sei - sonst könnte der estnische Internet-Boom ebenso schnell in sich zusammenfallen wie die New-Economy-Blase vor drei Jahren im Westen.

Quelle: Spiegel Online, 30.03.2004

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