Mart Laar: Im Jahr 2000 führten wir in Estland die weltweit erste papierlose Regierung ein. Die zuständigen Stellen sind alle miteinander vernetzt, alle Dokumente zwischen den Ministerien und der Regierung werden elektronisch übermittelt. Sehr viele Regierungsbesprechungen werden am Bildschirm durchgeführt. Offizielle Dokumente und Archive der Ministerien sind über das Internet öffentlich zugänglich. Wenn Ministerien Vorschläge für neue Gesetzentwürfe oder Erlasse machen wollen, müssen diese zuvor im Internet veröffentlicht werden. Die Bürger können hierzu direkt Stellung nehmen. Unter dem Slogan Heute entscheide ich führten wir ein neues Internetportal ein. Bürger können eigene Vorschläge für Gesetze oder Richtlinien machen, diese im Netz diskutieren, darüber abstimmen und diese dann als offizielle Vorschläge via Internet an die Regierung übermitteln. In den vergangenen zwei Jahren wurden 20 Regierungsentscheidungen aufgrund dieser Bürgervorschläge verabschiedet.
VDI nachrichten: E-Government also als ein innovativer Beitrag zur Bürgerbeteiligung und Demokratisierung?
Laar: Auf jeden Fall, und die Bürger machen mit. Schon in den ersten zwei Tagen zählten wir über 70 000 Zugriffe. Mit dem E-Government machen wir die Arbeit der Regierung und der Verwaltung mehr transparent und können die Korruption wirkungsvoller bekämpfen. In Estland kann nun jeder Bürger über das Internet verfolgen, wie viel Cents die Regierung für welche Zwecke ausgibt. Wir sind dabei, das E-Government auch auf der unteren Verwaltungsebene einzuführen.
VDI nachrichten: Machen Sie sich hiermit nur Freunde?
Laar: Alle sind nicht von der neuen Form der Transparenz begeistert. Es gibt ja auch Leute, welche hierdurch Pfründe verlieren und deren heimliche Nebengeschäfte nun leichter auffliegen.
VDI nachrichten: Welche Rolle spielen die modernen Informationstechnologien heute im täglichen Leben in Estland?
Laar: Über 60 % der Bevölkerung haben Zugang zum Internet, die meisten Bürger füllen mittlerweile ihre Steuererklärungen Zeit sparend auf dem elektronischen Wege aus. Alle Schulen und 80 % aller Firmen sind ans Netz angeschlossen. Über die Hälfte der Bevölkerung benutzt Handys, viele davon sind in Estland hergestellt. 44 % der Exporte Estlands sind aus dem elektronischen Bereich.
VDI nachrichten: In Ländern wie Deutschland wird oft jahrelang diskutiert, ohne dass sich viel ändert. Wie schafften Sie es, diese Reformen in Estland so schnell einzuführen?
Laar: Wir mussten unsere Wirtschaft und Verwaltung von Grund auf modernisieren, weil Estland nach der Unabhängigkeit 1992 völlig am Boden lag. Dies erleichterte es, neue Wege zu gehen und von Anfang an moderne Technik einzusetzen. Die Propagierung moderner IT-Technologie als ein zentraler Baustein für eine Modernisierung Estlands besaß höchste politische Priorität. Wir bauten auf public-private Partnership, Liberalisierung sowie Ausbau des Handels statt Hilfsprogrammen von außen. Zudem sind knappe Ressourcen und Geldknappheit nicht immer schlecht. Dies fördert auch den Ideenreichtum und neue Formen der Zusammenarbeit. 1992 hatten wir eine Inflationsrate von über 1000 % und die Leute mussten stundenlang an Lebensmittelläden Schlange stehen. Heute haben wir in Estland eine der am stärksten wachsenden Volkswirtschaften Europas mit einem ausgeglichenen Haushalt, einer Inflationsrate von 1,2 % und einer geringen privaten Einkommenssteuerbelastung. Mit dem E-Government schafften wir es, unsere Verwaltung zu verschlanken und effektiver zu gestalten. Mart Laar:
Mart Laar war in den Jahren 1992 bis 1994 und 1999 bis 2002 Premierminister von Estland und aktiv am Aufbau des E-Goverment beteiligt. Heute ist er Abgeordneter des estnischen Parlaments und Mitglied der Beratungsgruppe für Technologien der Informationsgesellschaft der EU- Kommission. Er erhielt zahlreiche Auszeichnungen, so im vergangenen Jahr den Adam Smith Award für seine radikalen und erfolgreichen marktorientierten Reformen in Estland. Der verheiratete Vater eines Sohnes und einer Tochter ist Autor mehrerer Bücher über Geschichte und Politik und erwarb 1994 den akademischen Grad eines Master of Philosophy an der Universität von Tartu.
Quelle: VDI-Nachrichten, 06.11.2003
