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Friday, 5.07.2024
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Hohes Innovationstempo, boomende Wirtschaft: Estland holt von allen EU-Neulingen am schnellsten auf. Wenn nur der Nachbar Russland nicht wäre.

Die Software, die die großen Telekom-Konzerne das Fürchten lehrt, entsteht in einem verwohnten Betonbau in der estnischen Hauptstadt Tallinn. 200 Informatiker aus 29 Ländern entwickeln in dem früheren Sitz des Kybernetik-Instituts der Technischen Universität für Skype, den im vergangenen Jahr von Ebay für 2,6 Milliarden Dollar übernommenen Dienstleister für Internettelefonie, die Programme für das gebührenfreie Telefonieren.

Das nördlichste und mit nur 1,3 Millionen Einwohnern kleinste der drei baltischen Länder hat sich in den vergangenen Jahren dank einer konsequent marktwirtschaftlichen Politik zu einem Innovationszentrum gemausert, das den Vergleich mit Westeuropa nicht zu scheuen braucht.

„Unsere Wirtschaftsführer sind flexibler, mobiler, selbstständiger“, sagt der estnische IT-Manager Sten Tamkivi, der das Entwicklungszentrums von Skype leitet und trotz seiner erst 28 Jahre in seinem Land schon eine IT-Ikone ist. Um die Universitäten von Tallinn und Tartu haben junge Esten innovationsstarke IT-Schmieden gegründet wie das Glücksspielsoftware-Unternehmen Playtech Estonia und Cybernetica, einen Hersteller von maritimer Navigationstechnik.

Das Internet durchdringt den Alltag in Estland stärker als in vielen westlichen Ländern. Der IT-Hotspot im Norden hat eines der dichtesten WiFi-Netze der Welt – wer will, kann schon bald mit seinem Laptop auch am Strand im Internet surfen. E-Government, in Westeuropa überwiegend noch in den Anfängen, ist in Estland längst Praxis. Viele Esten beantragen ihre Reisepässe und Krankenkassen-Karten online und wählen per Internet. Nach jeder Parlamentsdebatte können sie den aktuellen Stand von Gesetzesentwürfen am eigenen PC einsehen. „Kein Minister hat in den Kabinettssitzungen Papier auf dem Tisch“, sagt Kalev Kukk, Abgeordneter der regierenden Reformpartei. „Alles passiert online.“ Und ihre Parktickets bezahlen die Esten nicht am Automaten, sondern mit einer per SMS übertragenen Buchungsorder.

In Estland erinnert kaum mehr etwas an die Zeiten der sowjetischen Besatzung, die vor 15 Jahren endeten. Heute ähnelt das Land viel mehr seinen skandinavischen Nachbarn, mit denen es intensiven Austausch pflegt: So vernetzen täglich mehr als 30 schnelle Fährverbindungen Tallinn mit dem nur 80 Kilometer entfernten Helsinki zu einem boomenden Wirtschaftsraum, für den Geschäftsleute schon einen Namen haben: „Talsinki.“

„Wir hatten Glück“, sagt Marje Josing, die Leiterin des Estnischen Konjunkturinstituts. „Mit Finnland, Schweden und Dänemark haben wir großartige Nachbarn.“ Dank ihrer frühen Anbindung an Skandinavien gelang den Esten von allen ehemaligen Sowjetrepubliken der schnellste Start in die Marktwirtschaft. Und diesen Weg gingen sie konsequent weiter. Seit 1994 gilt in dem Land eine einheitliche Flat Tax. Der Steuersatz von gegenwärtig 23 Prozent soll in den kommenden Jahren auf 20 Prozent sinken. Bei ihrem Staatshaushalt erwirtschaften die Esten Überschüsse, und beim Wirtschaftswachstum ist Estland mit 10,5 Prozent europäische Spitzenklasse. Die Arbeitslosenquote – derzeit rund sieben Prozent – sinkt stetig.

Beim Bruttoinlandsprodukt pro Kopf will der estnische Ministerpräsident Andrus Ansip von der wirtschaftsliberalen Reformpartei sein Land in den nächsten zehn Jahren unter die fünf wirtschaftlich stärksten EU-Staaten bringen, da wo jetzt Luxemburg, Irland, Österreich, Dänemark und die Niederlande sind.

Das Investitionsklima ist günstig, auch für ausländische Unternehmen. Als Erste erkannten finnische und schwedische Unternehmen die Vorzüge des kleinen Landes. Der finnische Elektronik-Hersteller Elcoteq etwa produziert Mobilfunktechnik für Nokia und SonyEricsson. ABB bedient mit seinen im Süden des Landes hergestellten Generatoren für Windkraftanlagen 30 Prozent des Weltmarktes. Skandinavische Finanzdienstleister wie SEB und Sampo bauten ein Banken- und Versicherungswesen auf, das zum Labor für neue Informationstechnologie für ihre Konzerne geworden ist. Offshore-Service-Zentren wickeln Verwaltung und Kundenservice für Unternehmen wie SAS, Hilton und Arvato ab.

Auch deutsche Unternehmen kamen mit High Tech nach Estland: Dynamit Nobel errichtete eine der modernsten Sprengstoff-Fabriken Europas. Neben zahlreichen Mittelständlern haben Siemens, E.On und der Versicherer Ergo in Estland investiert.

Im Ranking der wettbewerbsfähigsten Länder der schweizerischen Eliteuni IMD liegen die Esten auf Platz 20, im Ranking des World Economic Forum auf Platz 24 – beide Male weit vor den anderen Staaten Osteuropas. Auch in der Rangliste der am wenigsten korrupten Länder der Organisation Transparency International setzt sich Estland deutlich von den anderen östlichen EU-Staaten ab.

Wie wettbewerbsfähig estnische Unternehmen sind, zeigte vor Kurzem die Fährreederei Tallink. Mit der Übernahme des schwedischen Konkurrenten Silja Line im Juli verdoppelte sie auf einen Schlag ihr Passagieraufkommen und wurde zu einer der größten Fährgesellschaften Europas. Wobei es längst nicht mehr nur ums bloße Übersetzen geht: „Der Löwenanteil unseres Geschäfts sind Mini-Kreuzfahrten mit Shopping und Showbusiness“, sagt Tallink-Finanzvorstand Andres Hunt. Die beiden neuen Großfähren, die das börsennotierte Unternehmen gerade bauen lässt, ähneln denn auch eher Kreuzfahrtschiffen als klassischen Fährdampfern.

Vom Erfolg der Esten profitiert auch die Hansestadt-Rostock, die seit Kurzem auch Tallink-Schiffe anlaufen. Hafenchef Ulrich Bauermeister hofft, dass die Esten die Stadt über weitere Routen an die Anrainer der nördlichen Ostsee anbinden. Deutschland ist nach Finnland der zweitwichtigste Warenlieferant Estlands. Auch andere deutsche Häfen und Logistik-Dienstleister blicken gespannt in den Norden.

So hatte es die Deutsche Bahn auf die russischen Öltransporte per Schiene abgesehen und sich – wenngleich vergebens – am Bieter-Wettbewerb um die estnische Bahngesellschaft Eesti Raudtee beteiligt, deren Geschäft zu 90 Prozent aus Transit-Transporten besteht. Estland ist ein wichtiges Durchgangsland für den russischen Öl-export. Weil die nördlicher gelegenen russischen Häfen im Winter regelmäßig vereisen, wird das Öl in estnischen Häfen auf Schiffe gepumpt und weiter nach Westeuropa transportiert.

Trotz des regen Frachtgeschäfts ist Russland den Esten aber immer noch unheimlich. „Politsei“ steht auf dem blauweißen Markierungsband vor einem sowjetischen Ehrenmal mitten in Tallinn, der Bronzestatue eines Rotarmisten, die die Regierung demontieren will, weil sie für die Mehrheit der Esten Symbol der sowjetischen Unterdrückung ist. Polizisten sollen verhindern, dass sich russischstämmige Demonstranten und estnische Nationalisten vor dem umstrittenen Monument in die Haare geraten. Die russische Minderheit ist nicht unbedeutend: Sie stellt nicht nur ein Viertel der Bevölkerung, sondern auch wichtige Unternehmer im Land.

Estlands Verhältnis zu Russland ist gespannt. Zwar spricht wirtschaftlich alles für eine enge Verflechtung. Das investitionssichere, skandinavisch geprägte Estland könnte der Brückenkopf westlicher Unternehmen in die Wachstumsregion Sankt Petersburg sein. Viele russische Esten pflegen geschäftliche Kontakte nach Russland oder assistieren als Berater westlichen Unternehmen beim Markteintritt. Sankt Petersburgs Bedeutung für die estnische Wirtschaft werde „in den nächsten Jahren massiv zunehmen“, ist Bo Henriksson, Estland-Chef von ABB, überzeugt.

Wäre da nicht das tiefe Misstrauen gegen die ehemalige Besatzungsmacht. Estland will, wie die anderen baltischen Staaten, so bald wie möglich unabhängig von russischem Erdgas werden. Argwöhnisch beobachten die Esten auch das deutsch-russische Vorhaben einer Gaspipeline durch die Ostsee. „Die westlichen Regierungen verhalten sich in dieser Sache naiv“, sagt die Ökonomin Josing. „Ein solches Geschäft mit Russland zu machen, ist riskant.“

Strom gewinnt Estland zwar ohne russische Hilfe aus eigenen Ölschiefer-Vorkommen, das aber ziemlich unwirtschaftlich. Die Kraftwerke sind alt und weit entfernt von Tallinn an der russischen Grenze. Das dicke Stromkabel, das ABB im Dezember zwischen Tallinn und Helsinki für ein baltisch-finnisches Konsortium auf dem Meeresgrund verlegen wird, erfüllt deshalb einen doppelten Zweck: zum einen überschüssige Elektrizität an Skandinavien verkaufen, zum anderen das Land unabhängiger von Russland machen.

Estlands erfolgreicher Aufholprozess führt aber auch zu den Problemen, wie sie für hochentwickelte Volkswirtschaften typisch sind: Die Arbeitskosten steigen rapide. Die Inflation ist hoch und lässt den von Estland gewünschten Beitritt zur Europäischen Währungsunion in weite Ferne rücken. Spezialisten im IT- oder Finanzsektor können in Tallinn schon nahezu gleich hohe Gehälter verlangen wie in Helsinki. „In einer so kleinen Wirtschaft ist eine schnelle Angleichung der Löhne unvermeidbar“, sagt Josing. Um mit solchen Löhnen wettbewerbsfähig zu bleiben, müssen Staat und Unternehmen noch viel stärker in Technologie und Know-how investieren und die Arbeitsproduktivität steigern.

Der Nachschub an billigen Arbeitskräften dürfte tatsächlich schon bald ausbleiben. Niedrige Geburtenraten und Abwanderung nach Skandinavien lassen die Bevölkerungszahl schrumpfen. Die Anzahl der Schüler ist in diesem Jahr um 10.000 zurückgegangen.

Estlands Aushängebranche, die Informationstechnologie, sucht schon jetzt händeringend nach Personal. „Mitte des nächsten Jahres werden wir hier mit unserem Bedarf an die Decke stoßen“, sagt Skype-Manager Tamkivi. Sein nächstes Entwicklungszentrum wird das Unternehmen deshalb in einem anderen osteuropäischen Land eröffnen.

Autor(en)/Author(s): Christian Schaudwet

Quelle/Source: WirtschaftsWoche, 06.10.2006

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