Zeit genug hat sie eigentlich gehabt. Barrierefreies Internet, beziehungsweise Web-Accessibility, ist schon seit Anfang der neunziger Jahre ein Begriff und somit ein alter Hut. Gerade in den USA ist man uns dies bezüglich um Jahre voraus. Trotzdem ist der Mehrheit der deutschen Bevölkerung der Begriff barrierefreies Internet vollkommen fremd. Schlimmer noch, den meisten Screen-Designern sagt der Begriff ebenfalls nichts. Insofern berücksichtigen Webdesigner die Forderungen der barrierefreien Informationstechnologie schon alleine deshalb nicht, weil sie nichts darüber wissen. Nun stellen sich natürlich zwei Fragen: erstens, wie soll das Internet barrierefrei werden, wenn die, die sich mit Webdesign beschäftigen, keine Ahnung von Barrierefreiheit haben, und zweitens, was war eigentlich zuerst da, die Henne oder das Ei, der Webdesigner oder Webdesign?
Kreativität und barrierefreies Internet
Machen wir uns nichts vor! Die Mehrzahl der Designer glaubt, dass Barrierefreies Internet ihre Kreativität bedroht. Wer das sensible Völkchen der Designer kennt, der weiß, dass Kreativität eng mit gestalterischer Freiheit verbunden ist. Daher werden auch Kundenbriefings, wegen ihres maßregelnden Charakters, grundsätzlich schon mal sehr argwöhnisch betrachtet. Weitere Reizworte für Designer im Allgemeinen sind Zielgruppenorientierung, Benutzbarkeit, Nachvollziehbarkeit oder Wirkungskontrolle. Für Webdesigner heißt das Damoklesschwert Usability. Wie wir schon festgestellt haben, ist der Begriff Accessibility den meisten Designern ja noch unbekannt. Aber auch das wird sich bald ändern.
Uns ist durchaus bewusst, dass sich jetzt einige Designer auf den Schlips getreten fühlen werden. Aber das nehmen wir in Kauf. Vergleicht man den Verlauf anderer erfolgreicher Parallel-Entwicklungen im Internet, so werden die Zusammenhänge deutlich. Macromedia Flash ist das beste Beispiel: Würden Designer dieses Tool nicht lieben, es hätte keine Chance gehabt. Keine Macht der Welt hätte Macromedia zu dem machen können, was es heute ist, wenn Designer es ignoriert hätten. Macromedia Flash hatte einfach all das, was Designer lieben. Flash war befreiend. Befreiend von technologischen Einschränkungen, befreiend von Programmierern und Codern. Man konnte endlich nach Herzenslust gestalten, einfach kreativ sein. Natürlich profitierten von den neuen technischen Möglichkeiten auch die Kunden. Denn geht nicht gab´s plötzlich nicht mehr. Insofern war der durchschlagende Erfolg von Macromedia nur konsequent. Gut, Suchmaschinen konnten mit Flash-Seiten noch nie viel anfangen, aber das musste man ja den Kunden nicht auf die Nase binden.
Barrierefreies Internet im Aufwind
Welche Zugkraft hatte dagegen Barrierefreies Internet? Schon der Name ist zäh wie Leder. Barrierefreies Internet klingt irgendwie nach Birkenstockschuhen und Reiswaffeln. Barrierefreies Internet ist nicht sexy. Genauso wenig wie eine Rollstuhlrampe sexy ist. Deshalb wurde die Entwicklung des barrierefreien Internet bisher so erfolgreich ignoriert. Denn die barrierefreie Informationstechnologie musste beinahe 15 Jahre auf einen Durchbruch warten und erst jetzt wird langsam aber sicher eine Trendwende sichtbar. Zugegeben, an der neuen Situation dürfte eine veränderte Gesetzeslage nicht ganz unbeteiligt sein. Mit einem Gesetz in der Hand lässt sich Barrierefreies Internet halt besser verkaufen. Doch mittlerweile entwickelt die Thematik eine Eigendynamik. Und damit meinen wir nicht, dass sich das Thema hervorragend als neue Sau durchs Dorf treiben lässt. Wobei übrigens auch die steigende Anzahl der pfiffigen Trittbrettfahrer durchaus ein Zeichen für zunehmendes wirtschaftliches Interesse an der Thematik sein dürfte. Nein, Barrierefreies Internet gewinnt definitiv an Fahrt.
Es wird wahrscheinlich nicht mehr lange dauern und die PAGE - die Fachzeitschrift für Designer - wird sich ebenfalls dem Thema widmen. Nun werden Sie vielleicht fragen, na und? Dann sagen wir Ihnen, seit es die Zeitschrift PAGE gibt, hat es noch nie einen Bericht über das Thema Barrierefreies Internet in diesem Heft gegeben. Immerhin ist das Magazin mittlerweile Unterstützer des BIENE-Awards und hat in der letzten Ausgabe sogar die Generation 50plus wiederentdeckt. Insofern kommt das Thema wohl langsam tatsächlich in die Köpfe der Menschen, die Barrierefreies Internet irgendwann umsetzen sollen. Spätestens dann allerdings müssten viele Designer ihre Arbeitsweise überdenken, denn ein bisschen HTML- und CSS-Kenntnisse dürften dann nicht mehr reichen. Gute barrierefreie Lösungen entstehen nur im Dialog mit Codern, die ihr Handwerk beherrschen. Und Handwerk ist hier wörtlich gemeint, denn Programme wie Dreamweaver werden auch in Zukunft kaum validen Code, die Basis für barrierefreies Webdesign, ausgeben.
Effizienz in Vollendung
Vielleicht können wir Designern noch eine Motivation mit auf den Weg geben: Barrierefreies Internet bedeutet Effizienz in Vollendung. Schnelle Internetseiten, optimale Zielgruppen-Ansprache und ideale Voraussetzungen für ein verbessertes Suchmaschinen-Ergebnis sind nur einige Vorteile dieser Technologie. Wann endlich nehmen Designer die Herausforderung an und zeigen, dass Sie auch unter erschwerten Bedingungen tolles Design hervorbringen können? Denn dann gehört barrierefreiem Internet die Zukunft.
Der BIENE-Award in diesem Jahr ist vielleicht die beste Chance zu zeigen, welche Möglichkeiten bisher noch nicht ausgeschöpft wurden. Beim letzten BIENE- Award wurden nach Angaben der Veranstalter etwa 170 Arbeiten eingereicht. Dieses Jahr wird sich also zeigen, wohin der Weg geht. Die Messlatte liegt bei nur einem goldenen BIENE- Award bei 170 Einreichungen.
Quelle: Contentmanager, 02/2004